Güterabwägung - Bewertung von Nutzen und Schaden

Bewertung von Nutzen und Belastung eines Tierversuchs - die Güterabwägung

Wir bewerten Tierversuche – warum?

Jeder Experimentator ist vom Sinn seiner eigenen Versuche überzeugt. Ob ein Versuch wirklich notwendig und die Belastung des Tieres gerechtfertigt ist, kann deshalb nur von unabhängiger Seite beurteilt werden. Nicht-Mediziner sind oft nicht in der Lage, abzuschätzen, ob der behauptete medizinische Nutzen tatsächlich vorliegt oder nicht: daraus leitet sich eine unserer Hauptaufgaben ab.

Wir gehen fragwürdigen Tierversuchen nach und versuchen, deren Beendigung zu erreichen. Wenn möglich im Gespräch mit den Forschern, andernfalls aber durch Information der Oeffentlichkeit. Es ist letztendlich der Steuerzahler oder Konsument, der diese Versuche finanziert.

Unser erklärtes Bestreben ist es, Missstände – sowohl bei der Haltung von Versuchstieren, wie auch bei der Bewilligung und Durchführung von Tierversuchen – aufzudecken und dagegen vorzugehen.


Welcher Tierversuch ist gerechtfertigt?

Die Beantwortung dieser Frage erfolgt nach fünf Kriterien:

1. Wie gross ist der zu erwartende Nutzen eines Tierversuchs für Mensch und Tier?

2. Wie gross ist die Erfolgswahrscheinlichkeit des Versuchs?

3. Wie gross ist die Belastung für die Versuchstiere?

4. Rechtfertigt der absehbare Nutzen eines Tierversuchs die absehbare Belastung für die Versuchstiere?

5. Gibt es Alternativmethoden zu den Tierversuchen?


Zu 1. Nutzen:

Eine der am schwierigsten zu widerlegenden Behauptungen ist der jeweils angegebene Nutzen eines Tierversuchs für Mensch und Tier.

Erst wenn der mögliche Nutzen eines Versuchs festgelegt ist, kann überhaupt entschieden werden, ob der Schweregrad des Versuchs zu rechtfertigen ist.

Gemäss Aussagen von Tierversuchskommissionsmitglieder wird in den Kommissionen der Versuchszweck ('finale Unerlässlichkeit') kaum je überprüft, sondern in erster Linie geschaut, ob der Versuch schonender durchgeführt werden kann (Refinement). Grund ist, dass der von den Forschern behauptete Nutzen sehr schwer zu widerlegen ist für Nicht-Spezialisten im jeweiligen Fachgebiet. Währenddem die Normalbevölkerung fachlich erst recht kaum in der Lage ist, den von den Forschern behaupteten Nutzen von Versuchen zu widerlegen, ist dies den Aerzten für Tierschutz aufgrund ihrer Ausbildung eher möglich. Zwecks grösstmöglicher Objektivität erfolgen solche Bewertungen durch uns nicht von Einzelpersonen, sondern durch verschiedene praktizierende Ärzte und Spezialärzte der jeweiligen Fachgebiete.

Richtlinien der Ärztinnen und Ärzte für Tierschutz in der Medizin

Zur Bewertung des Nutzens eines Tierversuchs gibt es keine etablierte Skala.

Die Ärztinnen und Ärzte für Tierschutz in der Medizin haben deshalb ein entsprechendes Bewertungsschema entworfen mit den folgenden Eckdaten:

Nützlichkeitsgrad 0 = kein potentieller Nutzen absehbar für Mensch oder Tier,
Nützlichkeitsgrad 1 = leichter Nutzen,
Nützlichkeitsgrad 2 = mittlerer Nutzen,
Nützlichkeitsgrad 3 = hoher Nutzen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der betreffende Versuch die angestrebte Erkenntnis/den in Aussicht gestellten Nutzen auch wirklich hervorbringt, wird weiter unterteilt in:

Eintreffensgrad a = geringe Aussicht, dass der entsprechende Versuch die beabsichtigte Erkenntnis auch wirklich erbringt
Eintreffensgrad b = mittlere Wahrscheinlichkeit
Eintreffensgrad c = hohe Wahrscheinlichkeit

Diese Nützlichkeitsgrade und Wahrscheinlichkeiten sind nun naturgemäss sehr von der beurteilenden Person abhängig. Der Experimentator wird diesen Nutzen wesentlich höher veranschlagen als ein unbeteiligter Arzt. Um hier nicht die Meinung eines Einzelnen wiederzugeben haben sich die Ärzte für Tierschutz nun für folgende Bewertung entschlossen:

- Die Bewertung erfolgt durch erfahrene Ärzte verschiedener Fachrichtungen.
- Nebst Mitgliedern werden die Versuche einer ebenso grossen Anzahl von Nicht-Mitglieder der Ärzte für Tierschutz vorgestellt.
- Die Schlussbeurteilung ergibt sich aus dem arithmetischen Mittel der einzelnen Bewertungen.

Beispiel: ein Versuch, der einen hohen möglichen Nutzen hätte (z.B. Impfung gegen Aids), die angestrebte Aussage aber höchstwahrscheinlich nicht wird erbringen können (aus methodischen oder anderen Gründen) erhielte die Bewertung 3a.


Zu 2. Erfolgswahrscheinlichkeit:

Der Erfolg eines Versuchs ist von verschiedenen Faktoren abhängig: der Auswahl der „richtigen“ Tierart – sofern es denn eine solche gibt – , der richtigen Endpunkte, der Erfahrung der Experimentatoren, der Laborausstattung usw. All diese Faktoren müssen bei der Bewertung berücksichtigt werden.


Zu 3. Belastung für die Versuchstiere:

Forscher neigen nachgewiesenermassen dazu, die Belastung für die Tiere zu unterschätzen. Wir nehmen deshalb eigene Einschätzungen vor, halten uns dabei aber weitgehend an den 'Belastungskatalog' des BLV.


Bewertung des Schweregrads des Tierversuchs

Bei der Bewertung des Schweregrads eines Tierversuchs, also der Belastung und dem absehbaren Leiden für das Tier, halten wir uns an die offiziellen Richtlinien des Bundesamtes für Veterinärwesen (BVET 1.04 'Einteilung von Tierversuchen nach Schweregrad'):
Grad 0 = keine Belastung,
Grad 1 = leichte Belastung,
Grad 2 = mittlere Belastung,
Grad 3 = schwere Belastung für das Tier

Ausführlichere Informationen hierzu erhalten Sie auf der amtlichen Homepage des BLV mit der aktuellen Einteilung in die erwähnten Kategorien samt vielen Beispielen.

Zu 4. Güterabwägung:

Rechtfertigt der absehbare Nutzen eines Tierversuchs die absehbare Belastung für die Versuchstiere?

Die Beantwortung dieser Frage kommt heute prinzipiell den kantonalen Tierversuchs-Kommissionen zu: Diese sind aber – auch nach eigenen Aussagen – von der ansteigenden Anzahl der Gesuche/Versuche, sowie von deren Komplexität oftmals überfordert. Rückfragen bei anderen Spezialisten des betreffenden Forschungsbereichs sind durch das Amtsgeheimnis meist verwehrt. Siehe hierzu auch unsere separate Rubrik 'Amtsgeheimnis'.


Wer kontrolliert die Tierversuche?

Es wäre explizit die Aufgabe des Bundesrates, die absolute Notwendigkeit eines Versuchszwecks, die sogenannte 'finale Unerlässlichkeit', zu definieren (siehe auch www.aerztefuertierschutz.ch, Stichwort „unerlässlich“).

Dies ist aber bis heute nie geschehen.

Weiter kommt diese Aufgabe den Tierversuchskommissionen zu, die jedoch, wie beschrieben, dieser Aufgabe kaum gewachsen sind.

Die kantonalen Kommissionen hätten die Möglichkeit, solche Fragen an die übergeordnete, eidgenössische Versuchstierkommission zu delegieren, die ihrerseits unter Beizug der eidgenössischen Ethikkommission und anderer Fachkreise Abklärungen von konkreten Fragestellungen durchführen und den kantonalen Behörden beratend zur Seite stehen könnte.

Der Vollzug des Tierschutzgesetzes liegt bei den Kantonen: Eine von der Bewilligungsbehörde (i.d.R. das kantonale Veterinäramt) unabhängige Tierversuchskommission prüft die Gesuche und stellt Antrag über Bewilligung oder Nichtbewilligung an die Bewilligungsinstanz. Den Tierversuchskommissionen gehören ‑allerdings in krasser Minderzahl ‑ Mitglieder von Tierschutz‑Organisationen an. Einzig im Kanton Zürich können die drei Tierschutz‑Kommissionsmitglieder gegen missliebige Entscheide der Bewilligungsbehörde vorgehen, denn sie haben das Beschwerderecht. In den anderen Kantonen gibt es keinen entsprechenden Rechtsweg, um die Interessen der Tiere zu wahren.

Das BLV als eidgenössische Aufsichtsbehörde ist gegen kantonale Verfügungen beschwerdeberechtigt. Von diesem Recht wird kaum je Gebrauch gemacht.

Aus diesen Gründen ist es zwingend und notwendig, dass eine ausserhalb der Tierversuchskommissionen liegende Organisation eine externe Kontrollfunktion wahrnimmt.

Die Ausübung dieser Kontrollfunktion wird uns aber faktisch durch das Amtsgeheimnis äusserst erschwert: Wir erfahren von den Versuchen oftmals erst, wenn sie bereits durchgeführt wurden, und auch dann meist nur, falls sie publiziert wurden.


Aus all diesen Gründen braucht es uns – die Ärztinnen und Ärzte für den Tierschutz: wenn Sie sich mit diesen Anliegen identifizieren können, dann sind Sie uns als Mitglied ganz herzlich willkommen!